Projekt Beschreibung
ZEIT[GE]SCHICHTEN
Wie eine Kulisse ragt die ehemalige DDR-Parteizentrale vor der Chemnitzer Innenstadt auf, heute liebevoll von den Chemnitzer:innen als „Parteifalte“ aufgrund ihrer markant gezackten Form bezeichnet. Mit stolzem und durchdringendem Blick schaut uns Karl Marx in Übergröße entgegen. Fast wie gut bewacht, wirkt dagegen der kleine, etwas unscheinbare Durchgang, der sich links von ihm befindet. Traut man sich an ihm vorbei und hindurch, liegt vor einem ein großes, versiegeltes Parkplatzareal. Das Mädchen, das am Wochenende, wenn die Autos weg sind, mit ihrem Vater den Ball über das ewige Grau kickt, lässt erahnen, wie viel mehr dieser Ort im Zentrum sein will und welche Bedeutung er in der Stadtgesellschaft einnehmen kann.
Chemnitz begegnet uns bei unseren zwei Besuchen als eine vielschichtige Stadt. Sie ist spürbar von einem mit 47 Jahren sehr hohen Altersdurchschnitt sowie der Abwanderung junger Menschen geprägt. Und doch finden junge Kreative hier Räume vor, die anderswo längst knapp sind: Es gibt reichlich Platz zum Gestalten, Erleben und Zusammenkommen. Die Subkultur, die sich über viele der Stadtviertel an einzelnen Orten verteilt, findet sich auch an unserem Ort wieder, bislang allerdings nur temporär. Mit dem Theater und der Kunstsammlung als direkte Nachbarn, fällt es leicht, das Gebiet in Zukunft auch als dauerhaft kreativen Ort zu denken.
Prägend ist gleichermaßen die bewegte politische Geschichte der Stadt und des Areals. Wer durch das Quartier geht, streift unweigerlich Vergangenheit und Gegenwart: Zwischen ehemaligen DDR Bauten, einer früheren Aufmarschstraße und einem enteigneten jüdischen Grundstück verdichten sich unterschiedliche Zeitschichten auf engstem Raum. Wer genau hinsieht, kann sie wie ein städtisches Palimpsest herauslesen.
Gerade diese zeitschichtlichen Überlagerungen eröffnen eine besondere Chance: Was wäre, wenn der Ort wieder zu erzählen beginnt und zum Erzählen einlädt? Wenn er den Rahmen für Begegnung und Austausch verschiedener Generationen bietet, in einer Zeit, in der es leichtfällt, sich zurückzuziehen. Als ein Ort, an dem Menschen Geschichten aus ihrer Zeit teilen, sich gemeinsam erinnern und diese Erinnerungen weitertragen.
Multicodierter Raum
Im Rahmen des Entwurfs wird das Areal in vier Teilbereiche gegliedert, die jeweils spezifische erinnerungskulturelle Funktionen übernehmen. Drei dieser Teilbereiche sind als öffentliche Zentren konzipiert, ein vierter als geschützter, privater Rückzugsraum.
1. Politisches Zentrum
Das politische Zentrum thematisiert das sozialistische Erbe des Ortes. Es umfasst zentrale Relikte der DDR- Vergangenheit, darunter die „Parteifalte“, das Verwaltungsgebäude in der
Brückenstraße 10–14, sowie das leerstehende Gebäude in der Straße der Nationen 23, ehemals ein Wohnhaus der SED. Im Erdgeschoss der Straße der Nationen 23 ist eine Dauerausstellung zur politischen Geschichte der DDR vorgesehen, ergänzt durch als grünes Klassenzimmer konzipierten Außenraum. Zusätzlich soll in dem Gebäude ein Hostel eingerichtet werden, das insbesondere jungen Menschen einen niedrigschwelligen Zugang zur Auseinandersetzung mit der Geschichte ermöglicht und den Mangel an niedrigpreisigen Übernachtungsangeboten in Chemnitz ausgleicht. Programmatisch wird das Zentrum durch Kooperation mit dem unmittelbar benachbarten Open Space und der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung erweitert.
2. Persönliches Zentrum
Das zweite Zentrum handelt von der individuellen und familiären Erinnerung und befindet sich unter anderem auf dem Areal des früheren Antonplatz 15. Das Grundstück befand sich bis zu seiner Enteignung durch das NS- Regime im Besitz des Juden Julius Sommerfeld, der 1940 im
Konzentrationslager Sachsenhausen ermordet wurde. Das NS-Regime enteignete die Familie und richtete auf deren Grundstück unter dem Vorwand eines „jüdischen Altersheims“ eine Sammelstelle vor der Deportation von mindestens 120 Chemnitzer Jüd:innen in Konzentrationslager ein. Im weiteren Verlauf wurde das Areal durch die DDR erneut überformt und erst nach der
Wiedervereinigung an die Nachkommen rückübertragen. In Würdigung dieser Biografie entsteht ein Ort des persönlichen Gedenkens: Ein Erzählcafé sowie ein Archiv sollen das Erinnern dialogisch gestalten und dafür in Teilen in die bisherige Tiefgarage einziehen und damit den Grundstein für eine zukünftige Umnutzung legen. Eine Sommerbühne und ein Pavillon ermöglichen es, insbesondere das künstlerische Werk der Nachfahrin Nirit Sommerfeld in einer performativen Praxis sichtbar zu machen. Die Nähe zum Theater ermöglicht dabei institutionelle Kooperationen.
3. Produktives Zentrum
Das produktive Zentrum, in unmittelbarer Nähe zu den Kunstsammlungen Chemnitz sowie zur Industrie- und Handelskammer begründet einen Ort der wissensbasierten Produktion und handwerklich-künstlerischen Praxis. In einem Bestandsgebäude, das ehemals als Kfz-Werkstatt genutzt wurde, entstehen offene, multifunktionale Werkstätten, wo Skills durch das gemeinsame Werkeln weitergegeben werden. Ein Teil des Gebäudes steht zudem den Kunstsammlungen Chemnitz zur Verfügung. Ergänzt wird das Zentrum durch einen Materialverteiler sowie einen gemeinschaftlich gestalteten Werkstatthof und Garten.
4. Privater Raum
Der vierte Bereich bildet als geschützte Sphäre einen Kontrapunkt zu den öffentlichen, auf gemeinsamen Austausch ausgerichteten Erinnerungsorten. Er ist als Rückzugsort angelegt und soll das individuelle Innehalten ermöglichen. Gelegen auf dem höchsten Punkt des Areals, in unmittelbarer Nähe zur bestehenden Wohnbebauung entsteht ein großzügiger Park mit unterschiedlichen Qualitäten.
Zwischen den vier Teilbereichen entfaltet sich ein zentraler Kern, der als Übergangsbereich zwischen öffentlichen und privaten Nutzungen fungiert. Er lädt zum freien Verweilen ein und verzichtet bewusst auf ein vordefiniertes narratives Programm.
Knotenpunkt verschiedener Stadtteile
Die bestehende Kreativachse, welche zurzeit die Stadtteile Brühl, Sonnenberg und die Straße der Nationen durch kreative Institutionen miteinander verbindet, wird durch den Entwurf ergänzt. Eine neue Verbindung südlich zur Innenstadt und nach Westen in den Stadtteil Kaßberg wird geschaffen. Der Entwurfsort liegt im Zentrum dieser gesamten Kreativachse und bindet weitere Institutionen in die gesamte Achse ein, die sich an den im Areal eingegliederten Nutzungen orientieren.
Blau-grünes Netz für Radfahrer:innen und Fußgänger:innen
Die bestehende blaue Achse mit dem Fluss Chemnitz wird bis zum Areal über einen Teich, einen
Brunnen und Wasserspiele erweitert. Parallel dazu hebt die Kreativachse die Grünverbindung der Stadtteile hervor und erhält mit einem großen Park im Areal einen grünen Knotenpunkt. Die bestehenden Magistralen werden um die Hälfte verschmälert, indem neue Grün- und Fahrradstreifen in die Fahrbahn integriert werden. Dadurch wird der autoreduzierte Verkehr gefördert.


